Schweiz
Gesellschaft & Politik

Funiciello zur 4-Tage-Woche: «Dieses Mass an Produktivität ist ungesund»

Tamara Funiciello, SP-BE, stellt Sidney Kamerzin, Mitte-VS, eine Frage, waehrend der Sommersession der Eidgenoessischen Raete, am Donnerstag, 16. Juni 2022, im Bundeshaus in Bern. (KEYSTONE/Peter Klau ...
Für SP-Nationalrätin Tamara Funiciello ist klar: Die Arbeitszeit in der Schweiz muss reduziert werden.Bild: KEYSTONE

«Dieses Mass an Produktivität und Druck ist ungesund»: Funiciello zur 4-Tage-Woche

Spanische Angestellte profitieren aufgrund eines grossflächigen Pilotprojektes bald von reduzierten Arbeitszeiten. In der Schweiz fordern einige Politikerinnen und Politiker ebenfalls eine Arbeitszeitreduktion. watson hat mit der SP-Nationalrätin Tamara Funiciello, einer Verfechterin der Viertagewoche, gesprochen.
30.04.2023, 19:4030.04.2023, 22:43
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Bald können einige Spanierinnen und Spanier jubeln, denn in absehbarer Zeit müssen für den gleichen Lohn weniger arbeiten. Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitenden können sich für ein Pilotprojekt zur Viertagewoche bewerben. Während des Projekts erhalten die Mitarbeitenden weiterhin ihren vollen Lohn, aber mindestens 30 Prozent der Angestellten sollen mindestens 10 Prozent weniger Stunden arbeiten.

Die teilnehmenden Firmen werden von der Regierung entschädigt, sie stellt 9,6 Milliarden Euro zur Verfügung. Ziel des Tests ist es, Arbeitsmodelle zu entwickeln, deren Basis eine reduzierte Stundenzahl ist. Dauern wird das Projekt mindestens zwei Jahre, denn so können aussagekräftige Ergebnisse generiert werden.

Funiciello will Arbeitszeit verkürzen

Im hiesigen Parlament gibt es ebenfalls Stimmen, die auf eine Arbeitszeitreduktion pochen. So auch die SP-Nationalrätin Tamara Funiciello – und zwar schon seit rund sieben Jahren. Sie hat bereits zwei Motionen mit dem Titel «Arbeitszeit verkürzen!» eingereicht. Darin fordert sie, dass die Erwerbsarbeitszeit für tiefe und mittlere Löhne mittelfristig auf 35 Stunden pro Woche gesenkt wird. Die Mitarbeitenden sollten aber weiterhin ihre vollen Löhne erhalten.

«Als Gesellschaft insgesamt werden wir seit Jahren immer produktiver. Aber gleichzeitig sinkt die Arbeitszeit kaum. Da muss man sich doch fragen: Wohin geht dieses Geld?», sagt sie zu watson. «Es werden immer mehr Dividenden ausgezahlt und die Löhne, der Menschen, die schon viel verdienen, steigen stetig. Aber für normale Arbeitnehmerinnen gibt es kaum Verbesserungen. Denn weder sind ihre Löhne im gleichen Mass gestiegen, wie die Produktivität – das wäre fair – noch ist die Arbeitszeit gesunken», erklärt sie weiter.

Tamara Funiciello, presidente de la JUSO, parle lors de l'Assemblee des delegues du PS Suisse, SP, ce samedi 24 juin 2017 a Fribourg. (KEYSTONE/Jean-Christophe Bott)
Funiciello ist überzeugt, dass das aktuelle Mass an Produktivität ungesund ist für die Menschen. Bild: KEYSTONE

Laut Funiciello hat sich das Arbeiten an sich stark verändert während den vergangenen Jahrzehnten. Sie sagt: «Wir arbeiten nicht mehr gleich wie früher. Heute ist alles schnelllebiger, alles muss innert kürzester Zeit erledigt werden. Vor 20 Jahren war das anders – denken wir nur an die Handys und Computer. Aber dennoch arbeiten wir fast gleich viele Stunden wie damals. Das ist nicht verhältnismässig.»

Sie fügt an: «Wir sind an einem Punkt angelangt, wo die Produktivität und der Druck schlicht ungesund sind für die Menschen.»

Die Kostenfrage

Funiciello geht es jedoch nicht nur darum, fairere Bedingungen zu schaffen bezüglich Produktivität und Entlöhnung, sondern die Problematik ist für sie weitreichender: «Dass die Leute überarbeitet sind, widerspiegelt sich auch in ihrer psychischen Gesundheit. Immer mehr Menschen haben Burn-outs, die Leute leiden. Die damit einhergehenden Kosten sind enorm, je nach Studie geht man von Gesundheitskosten von 9 Milliarden jährlich aus. Das könnte man verhindern, wenn die Arbeitszeit reduziert und die Menschen entlastet würden.»

Funiciello geht es also mit unter darum, Kosten einzudämmen. Das Beispiel des Pilotversuchs in Spanien zeigt aber, dass ein solches Vorhaben mehrere Milliarden kostet. Sie sagt dazu: «Wieso stellt man die Frage, wer das zahlen soll, immer dann, wenn es um die Verbesserung des Lebens der Normalverdienenden geht? Wieso stellt niemand die Frage bei den Dividenden – wer soll das zahlen? Eine Arbeitszeitreduktion ist gut für fast alle. Die Kosten von Burn-outs und Unfällen würden abnehmen. Zudem würde die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden. Die Lebensqualität würde steigen, Studien zeigen, die Arbeitnehmer sind glücklicher und zufriedener. Ich würde sagen, eine Investition, die sich lohnt.»

Das sagt der Bundesrat

Die Motionen wurden in den beiden Räten noch nicht behandelt. Der Bundesrat hat Funiciellos Motion, welche im Dezember 2021 eingereicht wurde, aber bereits abgelehnt. Primär mit der Begründung, dass die Arbeitszeit auf der Grundlage eines Vertrags zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder durch Gesamtarbeitsverträge festgelegt würde. Zudem sei die Arbeitszeit in der Schweiz bereits seit Jahren rückläufig.

Funiciello sagt zu der Ablehnung: «Stimmt halt einfach nicht – bereits heute sind die Rahmenbedingungen mit einer maximalen Arbeitszeit im Arbeitsgesetz geregelt. Zudem müsse man bei der rückläufigen Arbeitszeit beachten, wer weniger arbeitet. Es sind die, die es sich irgendwie leisten können. Und in vielen Berufen geht es nicht anders als mit einem tieferen Arbeitspensum. Nehmen wir die Pflege, beispielsweise. Da arbeitet fast niemand 100 Prozent. Die Arbeit ist schlicht zu streng. Die Leute arbeiten dann 80 Prozent und müssen aber Überstunden machen, weil es schlicht zu viel Arbeit gibt. Das ist doch keine Lösung. Wenn wir aber die Arbeitsbedingungen verbessern, sie realistischer machen, bleiben die Leute länger im Beruf.»

Sie konkludiert: «Die Argumente des Bundesrates gehen also nur sehr bedingt auf. Es ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, der stattfinden sollte. Es sollen nicht nur die die Arbeitszeit reduzieren können, die es sich leisten können. Schlussendlich müssen wir uns fragen: Wie wollen wir die Produktivität, die erwirtschaftet wird, verteilen? Es kann nicht sein, dass immer nur die profitieren, die Besitzer und Besitzerinnen dieser Unternehmen sind.»

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229 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Yoldi
30.04.2023 20:23registriert Juni 2021
Sorry Leute, das sind nicht die Probleme, für die wir Lösungen finden müssen.
Bessere Anstellungsbedingungen? Mehr Work-Livebalance?

Wichtiger wäre es, von einem 100% Job leben zu können, 5 Wochen Ferien für alle, 13. ML für alle Erwerbstätige, 50% Lohnzuschlag für Wochenendarbeit, 100 % Lohnzuschlag für Überzeit und Kompensationsstunden, Verpflichtung zu Finanzierung der Arbeitsausrüstung, massivere Strafen für Missbrauch inklusive Bestrafung mit Privatvermögen usw.
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FrancoL
30.04.2023 20:22registriert November 2015
Ob es nun Funiciello sagt oder andere;
Teilarbeit ist tatsächlich stark vom Lohn abhängig und in schlecht entlohnten Branchen ist Teilarbeit selten, obwohl gerade in diesen Bereichen die Belastung oft sehr gross ist.
Eine fairere Entlohnung wäre mehr als wünschenswert.
Die Gesellschaft funktioniert gut, wenn alle etwas vom Kuchen haben und auch die nötigen zeitlichen Ressourcen, um sich zu regenerieren.
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der Denker
30.04.2023 20:31registriert März 2016
Die Arbeitsleistung durch Computer etc. mag höher geworden sein. Aber eben nicht in den Niedriglohnbranchen, wie Putzpersonal, Verkäuferinnen, coiffeusen etc. Daher kann nicht so einfach generell gesagt werden die Leistung ist höher. Dies trifft nämlich grossteil nur auf die besser bezahlten Jobs zu. Bevor wir über eine 4 Tage Woche diskutieren sollten zuerst die Arbeitsbedingungen in den Niedriglohnbranchen angefasst werden. Ich denke nur schon durch das wird dort die Arbeitszeit deutlich sinken. Aber eine 4 Tage Woche mit selbem Lohn wird in diesen Branchen eher zu Stellenabbau führen.
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